+49 89 2152 768-0

Die Fast-fertig-Falle

Michael Nickl • Aug. 04, 2023

Warum liegt man mit der Einschätzung des Fertigstellungsgrades so oft daneben?

Wie von jedem Projektleiter wird auch von mir zurecht erwartet, dass ich jederzeit Auskunft über den Fortschritt im Projekt geben kann. Doch je größer ein Projekt ist, um so schwieriger ist es, den Überblick zu behalten. Am Ende des Tages bin ich darauf angewiesen, dass ich realistische Einschätzungen aus meinem Team erhalte, wie lange eine Aufgabe noch dauern wird, bis sie abgeschlossen ist. „Ich bin fast fertig“ höre ich dann oft. Frage ich einige Tage später erneut, heißt es wieder „fast fertig, es fehlt nur noch eine Kleinigkeit, aber 98% sind erledigt“. Und eine Woche später wiederholt sich das Ganze. 


Ich nenne dieses Phänomen die „Fast-fertig-Falle“. Aber warum ist es so, dass man bei der Einschätzung des Fertigstellungsgrades so oft daneben liegt?


Aufgaben sind nicht genau definiert

Wenn Aufgaben im Projekt nicht genau beschrieben sind und die Mitarbeiter*innen nicht wissen, was von ihnen erwartet wird, lässt sich auch keine Aussage über den Projektfortschritt treffen. Ein*e Softwareentwickler*in wird sich z.B. darauf konzentrieren, den Code fehlerfrei bis zum vereinbarten Termin fertig zu stellen. Wird aber auch eine entsprechende Dokumentation erwartet, sollte man das auch entsprechend kommunizieren. Wer jetzt meint, von Entwickler*innen könne man erwarten, dass sie eine Dokumentation erstellen, läuft schon in die nächste Falle. Zwar lässt es sich nicht vermeiden, in Projekten Annahmen zu treffen, doch anschließend sollte man schnellstmöglich die Annahmen auf ihre Gültigkeit hin prüfen, um nicht später überrascht zu werden.


Die 80/20 Regel

80 Prozent einer Aufgabe werden in nur 20 Prozent der zur Verfügung stehenden Zeit erledigt. Die restlichen 20 Prozent der Aufgabe benötigen die verbliebenen 80 Prozent der Zeit. Das ist eine Regel, die fast ausnahmslos zutrifft. Glauben Sie nicht? Dann machen Sie folgendes Experiment: Kaufen Sie eine Packung Konfetti und verstreuen Sie diese im Büro. Ihre Aufgabe ist jetzt, die Konfetti vollständig wieder aus Ihrem Büro zu entfernen, und mit vollständig meine ich, dass auch wirklich das letzte Konfetti entfernt wird. Kein einziges darf übrig bleiben. Sie werden feststellen, dass Sie den Großteil (80 Prozent) in kurzer Zeit werden aufsammeln können, zum Beispiel mit einem Staubsauger. Aber spätestens, wenn sich Konfetti in Zimmerecken oder unter Möbeln verirrt hat, wird es wesentlich aufwendiger, diese zu entfernen.


Auch bei Projektaufgaben gilt die 80/20 Regel. Wenn Mitarbeiter*innen mit ihren Aufgaben anfangen, werden Sie schnell Fortschritte erzielen. Diese stimmen die Mitarbeiter*innen positiv, rechtzeitig fertig zu werden, vielleicht sogar so positiv, dass sie die Aufgabe zwischenzeitlich ruhen lassen, denn es bleibt ja noch viel Zeit übrig. Doch je weiter die Aufgabe voranschreitet, desto häufiger stellt man fest, dass der Rest der Aufgab doch umfangreicher ist als gedacht und dass an anderer Stelle auch noch etwas fehlt. Ehe man sich versieht, hat man die Frist zur Erledigung der Aufgabe gerissen.


Abhängigkeiten werden nicht berücksichtigt

Nur die wenigsten Tätigkeiten in einem Projekt sind nicht von anderen Personen, Aufgaben oder sonstigen Bedingungen abhängig. „Ich bin davon ausgegangen, dass unsere Entwicklungsumgebung leistungsfähiger ist. Wenn es aber so lange dauert, bis der Code kompiliert wird, kann ich unmöglich bis zum Termin fertig werden“ war die Aussage eines Entwicklers. Da die Abhängigkeit zu einer schnellen Entwicklungsumgebung zuvor jedoch nicht bekannt war, konnte man auch nicht die richtigen Voraussetzungen schaffen. Ein*e Projektleiter*in tut also gut daran, sich über Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Abhängigkeiten frühzeitig Gedanken zu machen und sich mit dem Team abzustimmen.


Ghost in the Machine

Manchmal ist es aber auch einfach die Technik, die nicht mitspielt. Gerade eben haben wir in einem Kundenprojekt SAP-Systeme von einem Rechenzentrum in ein anderes übertragen. Da wir mehrere Testläufe gemacht hatten, wussten wir sehr genau, wie lange dieser Vorgang dauern wird und hatten die Dauer in unserem Projektplan berücksichtigt. Als wir dann die eigentliche Migration starteten, hat uns das Netz im Stich gelassen, die Übertragungsgeschwindigkeit war nur halb so hoch wie in unseren Probeläufen. Zum Glück hatten wir Reserven eingeplant und konnten die Verzögerung „wegpuffern“.


Elon Musk

Elon Musk soll folgendes gesagt haben: „Wenn du drei Wochen Zeit hast, dein Zimmer aufzuräumen, wirst du drei Wochen dafür brauchen. Wenn du aber nur 3 Stunden hast, wirst du es in drei Stunden schaffen.“ Für Projekte bedeutet das, dass Aufgaben, die dringlich erscheinen, schneller erledigt werden als solche, für die man großzügig Zeit eingeplant hat. Aus diesem Grund achte ich in meine Projekten auf einen ambitionierten, aber trotzdem realisierbaren Projektplan. Dadurch ist das gesamte Team gezwungen, sich zu fokussieren.


Als Projektleiter*in sollte man die Fast-fertig-Falle kennen und Vorsorge treffen, dass man nicht zu oft in sie hinein tritt. Vollständig lässt sie sich aber nicht vermeiden, denn in jedem Projekt gibt es unvorhersehbare Ereignisse und sogenannte „unbekannte Unbekannte“, die den Projektleiter oder die Projektleiterin fordern werden. Da ist es gut zu wissen, dass man wenigstens nicht in die bekannten Fallen getreten ist. +++


Bild: Malte Luk auf pexels.com


Neues von mnc projektmanagement + consulting

von Michael Nickl 14 Feb., 2024
PMOs können der Schlüssel zur effizienten Projektdurchführung sein, aber man sollte sich vor einer Überbürokratisierung in acht nehmen.
von Michael Nickl 30 Jan., 2024
Im Dezember des letzten Jahres hatte ich erneut die Möglichkeit, den Studierenden der Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt einen Einblick in den Arbeitsalltag eines IT-Projektmanagers zu geben.
von Michael Nickl 08 Jan., 2024
Die Digitale Transformation ist nicht mehr optional, sondern geschäftskritisch. CIOs, Vorstände, Geschäftsführer und IT-Leiter müssen auf entscheidende Erfolgsfaktoren setzen, um eine erfolgreiche strategische Roadmap für diesen Wandel zu schaffen.
von Michael Nickl 15 Nov., 2023
Vor etwas mehr als einem Jahr hat künstliche Intelligenz einen wahren Hype ausgelöst. Viele Berufe werden sich durch KI in der Zukunft verändern, auch der Job des Projektmanagers.
von Michael Nickl 24 Okt., 2023
Oft reichen die bekannten Projektmanagementmethoden und Prozesse nicht aus, um ein Projekt erfolgreich zu führen. Welche Fähigkeiten dann weiterhelfen, beschreibe ich in diesem Bog-Beitrag.
Junger Mann, der ratlos auf sein Laptop blickt
von Michael Nickl 05 Sept., 2023
Immer wieder fordern Auftraggeber Lösungen, die schnell und günstig umzusetzen sind, und bezeichnen diese als "hands-on Lösungen". Was das für Dein Projekt bedeutet, erfährst Du in diesem Blog-Post.
von Michael Nickl 28 März, 2023
Es ist immer unangenehm, kritisiert zu werden. Das trifft auch dann zu, wenn die Kritik im Rahmen von Mitarbeitergesprächen geäußert wird. Aber warum entscheiden sich einige Führungskräfte dafür, solche Gespräche in der Öffentlichkeit und unter den Augen und Ohren anderer zu führen?
Projektleiter, der an einem Whiteboard über ein Projekt nachdenkt
von Michael Nickl 21 Feb., 2023
Das Geheimnis für ein erfolgreiches Projekt ist, es von Anfang an so einfach wie möglich zu gestalten. Hier sind 10 Tipps, wie dir das gelingen kann.
von Michael Nickl 17 Jan., 2023
Viele Projektleiter reagieren auf Probleme im Projekt, indem sie komplexe Lösungen entwickeln. Doch warum ist das so? Und wäre es nicht besser, nach Einfachheit zu streben?
von Michael Nickl 03 Jan., 2023
Wenn übertriebene Vorsicht den Projektfortschritt behindert
WEITERE BLOGPOSTS
Share by: